Die Rietschelgiebel-Figuren
Ein Höhepunkt jedes Stadtrundganges ist der Besuch auf dem Hof der Ortenburg. Seit einigen Jahren wird dieses Ensemble aus beeindruckenden historischen Bauten bereichert durch einen modernen Bau – das Burgtheater/Dźiwadło. Es wurde im Jahre 2005 eröffnet und ist Heimstatt des Puppentheaters des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters, aber auch andere Inszenierungen für Kinder und Jugendliche und der kleinen Schauspielformen werden hier aufgeführt. Doch nicht nur sein „Innenleben“ zieht die Besucher an. Vor der Fassade des Neubaus haben die Figuren des Rietschelgiebels ihr neues Domizil erhalten. Diese Figurengruppe, die „Allegorie der Tragödie“, zierte bereits das von Gottfried Semper 1841 erbaute Dresdener Hoftheater, später dann das bis 1969 genutzte Gebäude des Bautzener Stadttheaters. Seine lange Odyssee hat nun auf dem Hof der Ortenburg ein Ende gefunden – und viele staunende Besucher, die sich diese Figuren nun von Nahem betrachten können.
Die Figurenfolge des Rietschel Giebels zeigt die wichtigsten Szenen des 2. und 3. Teiles der von Aischylos (525–456 v. Chr.) 458 v. Chr. beendeten „Orestie“ Triologie, bestehend aus den Tragödien „Agamemnon“, „Choephoroi“ und „Eumenides“.
Folgende Vorgeschichte ereignete sich bis zum Einsetzen des – rechts beginnenden – von Rietschel dargestellten Ablaufs:
Im Königreich Argos herrscht Atreus. Er verbannt seinen Bruder Thyestes, da dieser ihm die Macht entreißen will. Thyestes rächt sich, indem er bewirkt, dass Atreus unwissentlich seinen eigenen Sohn tötet. Nach einer scheinbaren Versöhnung kehrt Thyestes mit seinen 13 Kindern nach Argos zurück. Doch Atreus ermordet die 12 ältesten Kinder des Thyestes. Darauf spricht dieser einen Fluch über das Haus seines Bruders aus und geht mit seinem einzigen Sohn in die Fremde. Thyestes bestärkt damit einen älteren Fluch, der schon auf Pelops zurück geht, welcher Myrtilos, den Sohn des Hermes, getötet hatte. Dadurch war Pelops' Geschlecht der Rache der Götter verfallen.
Nach dem Tode des Atreus übernimmt dessen Sohn, Agamemnon, die Herrschaft im Reich. Er zieht mit seinem Bruder Menelaos gegen Troja, um den Raub der Helena zu rächen. Die 1186 Schiffe der griechischen Kriegsflotte liegen wegen einer Windstille im Hafen von Aulis fest – eine Strafe der Göttin Artemis, da Agamemnon einen ihr geweihten Hirsch bei der Jagd getötet hatte. Durch seinen Seher Kalchas wird Agamemmnon offenbart, dass Artemis seine Tochter Iphigeneia als Sühneopfer begehrt. Nach schweren inneren Kämpfen ist er dazu bereit und opfert Iphigeneia.
Während Agamemnons langen Abwesenheit knüpft dessen Ehefrau Klytaimnestra ein Liebesverhältnis mit Aigisthos, dem Sohn des Thyestes. Gemeinsam planen sie die Tötung Agamemnons – Rache für den Tod Iphigeneias und den Thyestes und seiner 12 Kinder. Nach 10-jähriger Belagerung Trojas kehrt Agamemnon als Sieger in die Heimat zurück, in seiner Gefangenschaft befindet sich die Tochter des Priamos, Kassandra. Diese sagte mit ihren seherischen Fähigkeiten den Tod ihres Bezwingers, aber auch ihren eigenen, voraus. Die Prophezeihung wird Wirklichkeit: Klytaimnestra und Aigisthos töten Agamemnon und Kassandra. Klytaimnestra rechtfertigte ihren Mord als zwingenden Racheakt für ihre Tochter Iphigeneia und als Erfüllungstat des dogmatischen Fluches Thyestes’. Auf Orestes, Sohn von Agamemnon und Klytaimnestra, der gemeinsam mit seinem Freund Pylades aus der Fremde heimgekehrt war, lastet nun die schwere Bürde, das ewige Gesetz der Vergeltung, die Rachepflicht, an der eigenen Mutter nach dem Willen der Götter auszuführen. Ein Orakel des Apollon hatte ihm diese Tat befohlen.
An dieser Stelle beginnt nun Rietschel auf der rechten Seite des Giebels seine Komposition der Tragödie plastisch darzustellen.
Ein umgeworfener Leuchter und ein Gefäß symbolisieren nicht nur den Tod, sondern auch die durch den Gatten und Königsmord ins Wanken geratene Ruhe und Ordnung der Familie und des Staates.
Nach vielen Jahren begegnen sich die Geschwister Orestes und Elektra am Grab des Vaters auf dem Friedhof vor der Stadt wieder. Gemeinsam flehen sie Agamemnon um Hilfe und Kraft an. Als Wanderer verkleidet, erreicht Orestes den Königspalast und meldet Klytaimnestra, von ihr unerkannt, seinen Tod in der Fremde. Danach rächt Orestes an dem herbeigerufenen Aigisthos die Mitschuld am Tode seines Vaters, indem er ihn mit dem Schwert niederstreckt.
Pylades bestärkt Orestes in seinen Rachegefühlen immer wieder. Er stellt ihm das drängende Gebot der Götter, den Racheakt zu vollführen, vor Augen. Trotzdem muss Orestes schwer um Kraft ringen, die nötig ist, die gottgewollte Rache an der um Gnade bittenden Mutter zu vollenden. Deutlich zeigt sich der innere Kampf des Sohnes vor dem Muttermord und das Ringen seiner Mutter um ihr Leben. Klytaimnestra versucht in panischer Angst, noch im letzten Augenblick, das Mitleid ihres Sohnes zu wecken. Doch der Druck des Orakels und die unmittelbaren Worte Pylades sind stärker. Letztlich schleppt Orestes Klytaimnestra neben den toten Aigisthos und begeht den grausamen Muttermord. Klytaimnestra stirbt in den Armen von Elektra, Pylades klagt bitter gen Himmel über den nicht endenden Fluch.
Das Volk atmet auf, überzeugt, dass nach dieser Tat Ruhe und Normalität im Lande einziehen werden und das Königshaus in altem Ruhm und Glanz erstrahlen kann. Durch seine öffentliche Rechtfertigung erhofft sich Orestes von den Bürgern von Argos Beistand, doch innerlich lastet die schaurige Tat schwer auf ihm: Er weiß sich zwar im Recht, ist sich aber auch gewiss, dass Rache neue Rache fordert. Er hofft auf eine Entsühnung durch Apollon, der ihn zu dieser Tat aufgefordert hat. Aber schon verfolgen ihn die drei Rachegöttinnen, die Erinyen – Tisiphone, Alekto und Megaira, die jede Versündigung an der göttlichen und menschlichen Ordnung mit unerbittlicher Strenge rächen. Sie sind schreckliche Furien mit Gesichtszügen, die Hass und Rache ausdrücken. In den Händen schwingen sie Fackeln und um ihre Häupter winden sich Schlangen anstatt des Haares. Durch ständig bedrängende Anwesenheit Tag und Nacht quälen sie ihr Opfer, ohne dass es entrinnen kann.
In den Mittelpunkt des Giebels stellt Rietschel eine symbolhafte Figur, die keinen direkten Bezug zum Szenenablauf hat: Melpomene, die Muse der Tragödie, mit der tragischen Maske und Efeu ums Haupt dargestellt. Sie teilt den Giebel in die blutige, von den Göttern bestimmte Vergangenheit und in die vom Menschen selbstbestimmte Gegenwart und Zukunft.
Unermüdlich haben die Rachegöttinnen Orestes über Land und Meer gejagt. Orestes flieht vor ihnen, sucht Schutz im heiligen Tempel des Apollon in Delphi. Apollon zeigt sich ihm und verspricht Erlösung von den schrecklichen Qualen der Erinyen, wenn er in Athen das Bild der Schutzgöttin umschlingt und Pallas Athene um Hilfe bittet. Auf dem Weg dahin wird ihn der Götterbote Hermes begleiten.
Pallas Athene, die mutterlose Tochter des Zeus, einst aus dessen Haupte entsprungen, ist die personifizierte Klugheit des Zeus. Als Stadtschirmerin begünstigt sie alles, was zum Wohle der Bürger beiträgt. Sie trägt den Helm und die Aigis, den schuppigen Brustpanzer mit dem Gorgonenhaupt. An dieser Stelle verändert Aischylos in seiner Trilogie bewusst die alte Überlieferung, nach der die Götter die Entsühnung Orestes vollziehen. Er übergibt die Lösung des Problems von Schuld und Sühne einem menschlichen Gericht: Der einberufene Areopag soll über Strafe oder Freispruch entscheiden.
Neben Pallas Athene ist auch Apollon mit dem Hirtenstab anwesend. Er ist der Sohn des Weltordners Zeus und verkündet den Menschen den Willen eines Vaters. Jetzt wird er als Zeuge in der Verhandlung für Orestes auftreten.
Pallas Athene setzt den Areopag, einen Gerichtshof aus weisen Bürgern ihrer Stadt, ein, der unter ihrem Vorsitz über die Entsühnung Orestes entscheiden soll. Nach der Anklage der Erinyen und der Verteidigung durch Pallas Athene sollen die Bürger zu einem gerechten Urteil kommen und ihre Stimmsteine in die Urnen werfen. Bereits eine Gleichheit weißer und schwarzer Steine würde Freispruch für Orestes bedeuten. So kann nach der Auszählung Pallas Athene verkünden: „Du bist, Orestes, frei erkannt im Blutgericht, denn ‚für‘ und ‚gegen‘ – gleich ist beider Stimmenzahl!“
Durch diesen weisen Spruch wird der Geist der Blutrache, nach der Verbrechen nur mit neuen Verbrechen gesühnt werden können, überwunden, hervorgerufen und begründet durch den Geist freier Menschen. So kann die göttliche Dike, die Beschützerin des Rechts und der Gerichte, ruhig und gelassen die Szene beschauen. Als Beisitzerin am Thron des Zeus, den hier Palles Athene vertritt, braucht sie das scharfe Schwert nicht zu ziehen und Orestes ist von jeder Schuld frei gesprochen.
Lebensrad und Steuerruder künden von dem geradlinigen Weg, den die Menschheit selbst gewählt hat und unbeirrbar nehmen wird.